Mehr Willy wagen

Gedanken zum 110. Geburtstag von Willy Brandt von Wolfgang Weber, Mitglied des Vorstandes des Ortsvereins der SPD Münster

Die alte Bundesrepublik wird nach und nach ein Teil der Kapitel von langsam vor sich hin staubenden Standardwerken über die deutsche Geschichte. Das gilt auch für die Zeit Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Am 18. Dezember eines jeden Jahres wird aus Anlass des Geburtstages von Willy Brandt das Geschichtsbuch aus dem Regal geholt und – zu Recht – die neue Ostpolitik, die von Willy Brandt maßgeblich miterdacht und mitbegründet wurde, gewürdigt. „Wandel durch Annäherung“ – das war der Wegweiser zum Zerfall des Ostblocks und am Ende zur deutschen Einheit. Zustimmung allseits – und das Geschichtsbuch wird wieder weggelegt.

Doch halt, da war doch noch mehr. Viel mehr. Vor wenigen Tagen hat der Ortsverein der SPD in Münster drei seiner Mitglieder für ihre 50jährige Mitgliedschaft in meiner Partei geehrt. Eine ganz beeindruckende Zahl, wie ich finde, gerade in Zeiten, in denen Loyalität und Solidarität zunehmend in lebenslaufaufhübschenden Projektstrukturen gedacht wird. Im persönlichen Austausch haben die Jubilare über ihre damaligen Motive gesprochen, als junge Menschen in die SPD einzutreten, sich für die Sozialdemokratie zu engagieren. Und da ist er wieder, dieser Willy Brandt. Für später Geborene wie mich (Jahrgang 1978) hört sich das an wie Geschichten aus einer anderen Welt: Diese besondere, eine ganze Generation mitreißende Aufbruchstimmung, der Glaube an eine bessere Zukunft, an eine Harmonie zwischen Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit in einer solidarischen demokratisch verfassten Gesellschaft, ja, an eine bessere Welt für alle. Mehr Demokratie wagen. „Ich bin wegen Willy in die SPD eingetreten“, unvorstellbar, eigentlich.

Wer all dies nun als sozialdemokratischen Kitsch wegräumen will, der hat nicht viel verstanden. Denn, gerade die moderne deutsche Geschichte erzählt düstere Stücke über Zeiten, in denen all das fehlte, worüber meine Genossen mit leuchtenden Augen berichteten. 20 Jahre nach der Geburt von Willy Brandt stand im März 1933 ein anderer großer Sozialdemokrat, Otto Wels, in der Berliner Krolloper und hielt ein flammendes Playdoyer für Freiheit, Gleichheit und Gewaltenteilung, bevor für 12 bittere Jahre das Licht dieser Werte in Deutschland erlosch. Heute wissen wir, wie es dazu kommen konnte.

Historische Vergleiche sind stets schief. Weimar ist nicht Berlin und das Jahr 1933 ist nicht das Jahr 2023. Aber eines ist doch gewiss, in den Jahren 1929 bis 1933 fehlte es der Gesellschaft an der Überzeugung, dass die Republik und ihre Verfassung, dass die Grundgedanken und Ideen der Demokratie zukunftsfest sind. Sowohl bei (zu) vielen Bürgerinnen und Bürgern, als auch bei den zu dieser Zeit handelnden politischen Akteuren. Diese negative Dynamik, dieser tiefe Pessimismus gegenüber dem demokratisch verfassten Staat und seinen tragenden Institutionen wird auch heute wieder gefährliche Realität.

Im Sport heißt es „Tabellen lügen nicht“. In der Politik gilt dasselbe: Wahlergebnisse und sich verfestigende Tendenzen in den Umfragen lügen nicht. Die in Teilen gesichert verfassungsfeindliche und rechtsextreme AfD hat inzwischen dasselbe politische Spreng- und Zerstörungspotential wie die Feinde der Demokratie in der Endzeit der Weimarer Republik. Ob gleiches auch für das neue Bündnis von Sarah Wagenknecht gilt, wird sich noch zeigen. Wer diese Sorgen für übertrieben hält, dem werden die kommenden vier Wahlen im Jahre 2024 die Augen öffnen. Wir dürfen nicht einfach daneben stehen und resigniert dabei zuschauen.

Wer ist „Wir“ ? Wir, das sind Otto Wels und Willy Brandt. Wir, das sind all jene in der demokratischen Mitte, die deren Werte teilen und verteidigen wollen. Wir, das sind also die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern. Wir, das sind also die Ehrenamtlichen in den Gemeinden. Wir alle sollten, nein müssen, jeder in seiner Rolle und Funktion das gemeinsame Ziel verfolgen, die Menschen mitzunehmen, sie einzubinden, dafür zu werben, dass wir alle in der bestmöglichen staatlichen Ordnung leben, was letztlich Vorteile für uns alle bringt. Und dabei ist klar zu benennen, wer der (System-)Gegner ist, was er will und wo er das Land hinführen wird, wenn Resignation, Mutlosigkeit und Hass ihn einmal an die Macht gewählt haben.

Wir, das sind aber auch die Wählerinnen und Wähler. Wer aus Protest Parteien wählt, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Ordnung stellen, der denkt zu kurz. Wer glaubt, dass diese Parteien für ihn etwas Gutes hervorbringen, der ist bestenfalls naiv.

Demokratie ist eine fordernde Staatsform, sie lebt von der politischen Bildung und Partizipation der Bürger und sie verlangt von den Mandatsträgern in den Parlamenten und in der Regierung Ehrlichkeit, Transparenz, Verbindlichkeit sowie verantwortungsbewusste politische Kommunikation. Ein Regierungsbündnis, das lieber seine Uneinigkeit zelebriert, als seine erreichten Erfolge kommuniziert, macht sich klein und verspielt Vertrauen. Gleiches gilt für eine demokratische Opposition, die auf der Suche nach dem demoskopischen Mehrwert die Dinge vereinfacht und dabei Lösungen vorgaukelt, die es nicht gibt. Das alles spielt den Feinden der Demokratie in die Hände, weil es demokratische Prozesse in Parlament und Regierung insgesamt schlecht und dysfunktional aussehen lässt, obwohl das nicht den Tatsachen entspricht. Wer heute noch meint, lautes Staatstheater aufführen zu müssen, hat es immer noch nicht verstanden. „Brandmauern“ halten übrigens auch nicht stand, wenn ihr Mörtel nur aus Beschwörungsformeln besteht.

Willy Brandt stand und steht noch immer für ein besonderes politisches Momentum in der Geschichte der Bundesrepublik, eine Sternstunde der Demokratie. Bei der Bundestagswahl am 19.11.1972 lag Beteiligung bei 91,1 % der Wahlberechtigten und diese wurde getragen von Vertrauen in das politische System und der Zuversicht, in einer freien, demokratischen Gesellschaft Wohlstand, Gerechtigkeit und gleichberechtigte Chancen für alle Menschen erreichen zu können. Das ist das Fundament – und das darf nicht wegbrechen. Wagen wir also alle wieder mehr Willy.