SPD erinnert an Rede von Otto Wels gegen das Ermächtigungsgesetz
Vor 90 Jahren: Der finale Akt zum Sturz der Weimarer Demokratie & das letzte Bekenntnis zur Freiheit im Reichstag
Von Wolfgang Weber, Vorstandsmitglied der SPD Münster
Vor 90 Jahren wurden am 23. März 1933 in einem bis dato beispiellosen Akt der Selbstentmachtung eines Parlaments Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland für 12 dunkle Jahre abgeschafft. Nur die Sozialdemokraten stimmten gegen das Ermächtigungsgesetz, das Adolf Hitler und die Nationalsozialisten die unumschränkte Macht zuspielte. Mit den Stimmen der NSDAP und anderer bürgerlicher und konservativer im Parlament vertretener Parteien konnte die regierende NSDAP das sogenannte „Ermächtigungsgesetz“ – offiziell „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ – mit der nötigen verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit verabschieden. Mit diesem Gesetz war die Aufhebung der Gewaltenteilung als Grundprinzip der Demokratie vollzogen. Nunmehr wurden in der Person Adolf Hitlers, der am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, neben den exekutiven Befugnissen als Reichskanzler auch gesetzgeberische Kompetenzen gebündelt. Deutschland war ab diesem Tag auch faktisch eine Diktatur.
Doch die Stimme der Freiheit war an diesem Tage noch nicht erloschen: Es gab 94 Gegenstimmen und sie wurden allesamt von den anwesenden Mitgliedern der SPD-Fraktion (26 Abgeordnete waren zuvor verhaftet worden bzw. wurden am Betreten des Sitzungssaales gehindert) abgegeben. Der Vorsitzende der SPD, Otto Wels, begründete die Ablehnung seiner Partei in seiner berühmt gewordenen Rede unter anderem mit den Worten: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht!“
Es war dies die letzte freie Rede im Reichstag und sie war das letzte leuchtende Bekenntnis zu Freiheit, Gleichberechtigung, Demokratie und Rechtsstaat in einem Land, das sich mehrheitlich bereits dafür entschieden hatte, sich einem Blender und Psychopathen und seiner Mörderbande anzuvertrauen – oder dies passiv geschehen zu lassen. Es war ein jeder Hinsicht mutiges Bekenntnis, zumal der Sitzungssaal in der Berliner Krolloper, in der nach dem Reichtagsbrand vom 28. Februar 1933 das Parlament tagte, von SA und SS umstellt war und sich deren Schläger auch im Inneren des Hauses befanden. Jedem der 94 Abgeordneten der SPD war bewusst, welches Schicksal ihnen und auch ihren Familien am Ende des Tages drohte. Nicht wenige haben ihren Einsatz für die richtige Sache mit Folter und Qual in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten sowie mit Ausbürgerung und Exil bezahlt.
Heute, 90 Jahre später, würdigen wir den Mut dieses Mannes und der anderen Abgeordneten der SPD, die sich dem Hass der Nationalsozialisten und vieler Zeitgenossen entgegengestellt haben sowie die Haltung aller Männer und Frauen in der SPD, die Standhaft geblieben sind trotz Verfolgung und Mord in den Jahren des Terrors und verneigen uns vor ihrem Opfer, welches sie für ihre Ideale gebracht haben. Sie alle haben daran geglaubt, dass sich die Ideen von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit dem Diktat von Gewalt und Tyrannei niemals beugen lassen und sie sollten Recht behalten.
Diese damals den Totengräbern der Freiheit entgegengeschleuderte Überzeugung ist auch heute noch eine laute Mahnung und ein Appell an uns alle in einer Zeit, in der immer mehr Menschen das Vertrauen in die Demokratie, den Rechtsstaat und seine Institutionen verlieren, sich aus Resignation oder auch nur Bequemlichkeit ins Private zurückziehen und in der seit nunmehr 10 Jahren eine Partei im Bundestag und in 15 Landesparlamenten Abgeordnete stellt, welche den freien politischen Diskurs vergiftet und in welcher rechtsgerichtete Verfassungsfeinde offen und allenfalls halbherzig widersprochen ihre Heimat finden dürfen.
Demokratie ist eine fordernde Staatsform. Sie verlangt Partizipation und sie ist keine Selbstverständlichkeit. Transparenz, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit sind harte Währungen in einer freien Gesellschaft und diese sollten nicht für folgenloses politisches Staatstheater in Talkshows, wohl kalkulierte Empörungsrituale und das bequeme Zurückweichen vor lauten Minderheiten in den Sozialen Medien ausgegeben werden. Demokratische Reife zeigt sich vor allem dann, wenn die Wahrheit unbequem ist.
Der 23. März 1933 markiert das Ende eines langen Weges des Niederganges der ersten demokratischen Republik in Deutschland. Die Demokratie ist nicht an der Masse ihrer Gegner, sondern an der zu geringen Zahl ihrer Unterstützer gescheitert. Es ist der Auftrag aller Demokraten, zu verhindern, dass sich diese Entwicklung wiederholt. Das ist der Anspruch, den Otto Wels und seine Mitstreiter und Mitstreiterinnen für nachfolgende Generationen formulieren. Die Rede Otto Wels blieb nicht unbeantwortet. Adolf Hitler selbst reagierte direkt mit den Worten: „Ich will auch gar nicht, dass die SPD für das Gesetz stimmt. Deutschland soll frei werden, aber nicht durch Sie!“
Otto Wels starb am 16. September 1939 als aufrechter und freier Mann im Exil in Paris. Adolf Hitler starb vor sich selbst knieend mit einer Pistole am Kopf und einer Kapsel Zyankali unter der Zunge. In einem letzten Akt der Feigheit befreite er sich selbst – von sich selbst. „Sein“ Volk befreiten andere.
Links zur Rede von Otto Wels zur Ablehnung des „Ermächtigungsgesetzes“
- Stenografisches Protokoll der Rede (Faksimile) in den Protokollen des Reichstags unter: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w8_bsb00000141_00036.html
- Gekürztes Tondokument der Rede mit den wichtigsten Passagen (ca. 4 min.)beim Archiv der sozialen Demokratie (WAV-Datei; 718 kB) unter: https://www.fes.de/adsd50/otto-wels
- Beitrag des SWR 23.3.1933: Otto Wels widersetzt sich dem Ermächtigungsgesetz: https://www.youtube.com/watch?v=nwnPr5_7FhI
Würdigungen durch bedeutende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten:
Willy Brandt:
(Rede anlässlich des 100. Geburtstages von Otto Wels in Bonn-Bad Godesberg am 15. September 1973)
„Der 100. Geburtstag des Sozialdemokraten Otto Wels, der zäh, tapfer und mit seinem scharfen Sinn für Solidarität mitgeholfen hat, das Leben der abhängigen Menschen erträglicher zu machen, die sie bedrückenden Abhängigkeiten zu vermindern. Ich zitiere mit Respekt aus seiner tapferen Rede vom 23. März 1933: „Wir Sozialdemokraten haben in schwerster Zeit Mitverantwortung getragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden. Unsere Leistungen werden vor der Geschichte bestehen.“ Kein Ermächtigungsgesetz, so sagte Otto Wels, gebe die Macht, Ideen zu vernichten, die unzerstörbar sind. Und ich sage hier in seinem Sinne: Wir wollen uns in einer weniger Opfer fordernden Zeit um so mehr bemühen, den Grundwerten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität gerecht zu werden.